Das Wort zum Donnerstag

Das Wort zum Donnerstag

29.05.2024

NOSW

Nie ohne Seife waschen, das war die Eselsbrücke für die richtige Reihenfolge der vier Himmelsrichtungen: Norden, Osten, Süden und Westen. Sie stehen für mich für Perspektive und Freiheit. Für Weite, Wind und Wetter. Und für die Erfahrung: Hinterm Horizont geht’s weiter.

Zu Hause hieß es: Im Osten geht die Sonne auf, im Süden ist ihr Mittagslauf, im Westen will sie untergehn, im Norden ist sie nie zu sehn. Wenn meine Mutter den Spruch sagte, dann wies sie mit ihrer Hand in die entsprechende Richtung. Und so war mein Elternhaus, um das sich in meiner Kindheit scheinbar auch die Sonne drehte, der Mittelpunkt meines Lebens, vielleicht sogar des Universums. Die Himmelsrichtungen beschreiben den Ort, an dem ich stehe.

Und sie sind mir Orientierung. Das Wort stammt aus dem Französischen und ist eine Ableitung von orient, was Richtung, wo die Sonne aufgeht bedeutet.

In bestimmten Kulturen, z. B. indigenen oder buddhistischen, wird diese Art der Orientierung auf sechs Himmelsrichtungen erweitert durch die Aufnahme von Zenit (oben/himmelwärts) und Nadir (unten/erdwärts). Diese fünfte Himmelsrichtung, nach oben, gibt an, wer ich bin. Und sie fragt zugleich: Habe ich Boden unter mir? Reicht mein Leben auch in die Tiefe?

Momentan erlebe ich eine hohe Mobilität in meinem Umfeld. Wir sind dann mal weg, scheint das neue Lebensmotto zu sein. Am besten wochenlang. Es zieht die Menschen in die Weite. Aber es zieht sie nicht nach oben. Mein Eindruck: weil der Standpunkt unklar ist, die Beziehung nach oben und das verwurzelt sein in der Tiefe sich zunehmend auflöst, fehlt es an Resonanzboden. Ein Boden, der die Gewichte des Alltags spannen kann und unter ihrer Last nicht zerbricht. Es fehlt mehr und mehr das feine Gespür die Schwingungen des Alltags zu vernehmen, zu fassen und zurücktönen zu lassen.

Eine fünfte Himmelsrichtung. Bisher übersehen? Vergessen? Unnötig? Reisen in ferne Länder, vielleicht auch nur in ein anderes Bundesland, kann verändern und prägen, kann erlebbar werden lassen, dass mein Leben nicht der Mittelpunkt des Universums ist.

Auch die fünfte Himmelsrichtung, und damit die Begegnung mit Gott, verändert. Bei dieser Begegnung wird klar, dass der Mittelpunkt Gott, und nicht der Mensch ist, und: dass Gott das Leben in die Tiefe und in die Weite führen kann – gleichermaßen. Er gibt die nötige Identität, Standfestigkeit und Sensibilität. Und in den Sinnfragen des Lebens eine Orientierung ganz anderer Art.

Bleiben Sie gesund und behütet.

Pastor Burkhard Heupel
Emmaus-Gemeinde

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